Verschiedene Dokumente dieser Mühle werfen bei genauer Betrachtung unerwartete kleine Schlaglichter auf allgemeine historische Umstände der nahen oder weiteren Lokalgeschichte. Die Bilder dokumentieren eine Mühlengeschichte von 1909 bis 1963. Das erste Foto ist von 1909 nach dem Neubau der Mühle. Das zweite Dokument ist derAuszug aus dem Genehmigungsverfahren von 1911 zur Erweiterung des Mühlengebäudes. Das dritte Bild ist eine Zeitungsaufnahme (!911?). Das vierte Bild zeigt, wie der Müller Renders versucht hat, durch die Erweiterung der Mühle mit der inzwischen bedeutenden Mühlenindustrie Deutschlands in seinem Ort konkurrenzfähig zu bleiben. Die alte Holländermühle von 1909 ist in den 30er Jahren nur noch ein geringer überkommener Teil des neuen Mühlenbetriebes mit Landhandel. Und 1963 ist sie immer noch ein Teil des Ortsbildes bis sie 1964 ihren Betrieb einstellt.
Rechnungen zum Neubau der Holländermühle von August Renders
Zwei Rechnungen beziehen sich auf die Lieferung von Ziegelsteinen durch die „Mellendorfer Ziegelwerke“ (19. März 1909) und auf eine Nachlieferung an August Renders durch die „Mellendorfer Tonwerke“ vom 30. Juni 1909. Bestellt wurden ca. 43 000 Steine. (Für ein Einfamilienhaus mit 150 qm rechnet man heute 8500 Ziegelsteine. Eine mehrgeschossige Mühle mit 60 cm starkem Mauerwerk, würde also heute soviel Steine wie fünf Einfamilienhäuser benötigen!) Die andere Rechnung betrifft eine umfangreiche Lieferung von Brettern durch das Dampfsägewerk in Fuhrberg, die vermutlich zum Innenausbau der neuen Mühle (Fußböden u.ä.) gebraucht wurden. Die neue Holländermühle sollte 1909 eine alte abgebrochene Bockwindmühle ersetzten. Das war eine beträchtliche und gewagte Investition in Zeiten immer stärkerer Konkurrenz mit den überlegenen Industriemühlen. Sie zeugte vom damaligen Optimismus des Müllers. Denn die viel kleinere Bockwindmühle war einem Neubau platzmäßig und technisch unterlegen. Renders setzte auch neue Müllereimaschinen (Walzenstühle etc.) ein, installierte einen Benzolmotor als Antrieb, um sich vom Wind unabhängig zu machen und weitete seinen Geschäftsbereich zum Handelsmüller aus. Reinhard Tegtmeier-Blanck
Briefköpfe und Rechnung:
a) Die Mühle von August Renders in Bissendorf
Die Rendersche Windmühle geht in ihrer langen Vorgeschichte mittelbar bis auf den Müller Hans Wolders zurück, der um 1602 nördlich von Bissendorf eine Bockwindmühle besaß, die später nach Kaltenweide / Langenhagen verkauft wurde - und dort noch zu besichtigen ist! An dem hiesigen Standort stand außerdem noch eine weitere Bockwindmühle, die sog. „Duschen-Mühle“, die August Renders kaufte, nachdem er 1879 nach Bissendorf gekommen war. Diese Mühle wurde abgerissen und 1909 durch einen Wallholländer ersetzt (eine Holländermühle, die auf einem künstlichen Erdwall steht und durch den man ins Untergeschoss der Mühle einfahren kann).
Aus dem undatierten abgebildeten Briefkopf, der zur Holländermühle von Gustav Renders gehörte, lässt sich etwas von dem Ende einer langen Mühlengeschichte ablesen. Wahrscheinlich stammt dieses blau gedruckte Briefpapier aus den letzten Betriebsjahren, bevor der Betrieb 1964 aufgegeben wurde. Bis auf das Wappen hat es eine uns bekannte nüchterne Form in der Auswahl des Schrifttyps: eine serifenlose, auch heute dominierende Schriften"familie". Sie ist bei Renders - auch mit der blauen Farbgebung - Ausdruck einer fortschrittlichen Unternehmensperspektive. Am Briefkopf fällt das dekorative Müllerwappen auf, das in seinem Grundaufbau einem weit verbreiteten Muster entspricht und demjenigen an der Peldemühle in Wittmund gleicht. Diese Wappen kamen im 16. Jahrhundert auf, wenn Müller, die inzwischen zu gesellschaftlichem Ansehen gekommen waren, sich zusammenschließen und ihre Interessen gegen andere gesellschaftliche Gruppen absichern konnten, ausgedrückt im Symbol der Löwen, die den Mahlstein mit ihren Pranken schützen. Das Wappen zeigt außerdem zwei wichtige Werkzeuge, Winkel und Zirkel der Mühlenbauer, aber gleichzeitig Instrumente, die der Müller brauchte, wenn er Reparaturen ausführen oder z.B. die Mahlsteine schärfen musste. Das Wappen verweist einerseits durch den Mahlstein in der Wappenmitte auf die traditionelle Geschichte der Windmühlen seit dem 13. Jahrhundert, verweist andererseits aber auch mit der Walze eines Walzenstuhls auf die Modernität der Mühlentechnik und Mahlverfahren. Während dieser Briefkopf noch genutzt wurde, hatten die traditionellen Wind- und Wassermühlen seit der Industrialisierung in Deutschland, von der zweiten Hälfte des 19. Jh. an - längst ihren Zenit überschritten. Die großen Industriemühlen mit ihrer Vollmechanisierung im Drei-Schichten-Betrieb waren übermächtige Konkurrenten der herkömmlichen Kleinmühlen geworden, sodass diese häufig Zusatz- bzw. Reserveantriebe einbauten, z.B. einen Benzolmotor wie Renders 1910. Damit versuchte man Nachteile auszugleichen. Es wurde auch nicht mehr nur Mehl gemahlen, wenn der Bauer kam (Kundenmüllerei), sondern auch Getreide gekauft, gemahlen und verkauft (Handelsmüllerei). Man musste den Geschäftsbereich ausweiten, um überleben zu können. Deshalb handelte Gustav Renders mit Düngemitteln und deshalb bereitete er Saatgetreide auf, d.h. das geerntete Getreide wurde gereinigt und gebeizt, damit es als Saat einen guten Ertrag bringen konnte. Dieses alles erforderte ständig Investitionen und manchmal eine andere finanzielle Gesellschaftsform wie hier eine Kommanditgesellschaft, in der persönlich und beschränkt haftende Gesellschafter ihr jeweiliges Kapital zusammen legten, gemeinsam das Geschäft betrieben und das Risiko verteilten.
b) Briefkopf und Rechnung der HABAG ( Hannoversche Brodfabrik AG)
"Rechnung für Herrn Mühlenbesitzer Renders", 1911
Gestaltung der Rechnung: Unabhängig vom Inhalt fällt eine ästhetische Gestaltung der Rechnung auf, wie sie um 1900 üblich war: der lindgrüne Pastellton des Papiers, der Briefkopf mit der Darstellung der Fabrikgebäude, schräg von oben gesehen und ihre Mächtigkeit betonend und daneben in gleicher Größe der Name des Betriebes in jugendstil-ähnlichen Buchstaben. Die technische Aktualität der Fabrik wird hervorgehoben: Der Betrieb heißt „Dampf-Mahlmühle und Brodbäckerei“. Man sieht, dass er bereits an das noch in der Entwicklung befindliche Telefon- und damit Telegrammnetz angeschlossen war. Die geschwungenen Buchstaben des Standortes „Hannover-Linden“ – damals eine eigenständige aufstrebende Stadt - und die schwungvolle Schrift von Wörtern wie „Rechnung“ betonen die wirtschaftlichen Aktivitäten und die Dynamik des Betriebes.
Rechnungsinhalt: Die „Hannoversche Brodfabrik AG (Habag)“ wurde 1886 in Hannover-Linden, Blumenauer Straße, von dem Geschäftsmann und Industriellen Fritz Hurzig gegründet. Sie ist ein Vorläufer der Firma „Harry-Brot“ (ab 1929). Nach Hurtzigs Plan sollte sie die angewachsene ärmere Bevölkerung mit preiswertem und gutem Brot versorgen. Diese Fabrik ist ein Beispiel für viele industrielle Neugründungen in dieser Zeit, d.h. für die industrielle, preisgünstige Brotherstellung und gleichzeitig ist sie ein Beispiel für die Aufhebung traditioneller Handwerksberufe wie Müller und Bäcker. Man kombinierte Mühle und Bäckerei in einem Betrieb und setzte immer mehr angelernte Arbeiter ein, weil man unter diesen Bedingungen immer weniger aus-gebildete Handwerker benötigte. Als neuen Antriebsstandard der Industrie nutzte man natürlich Dampfkraft zum Mahlen, aber vermutlich auch zur vollmechanisierten Teigherstellung, denn Knetmaschinen gab es bereits seit 1830 und Dampfbacköfen in Großbäckereien seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der Rechnung ist zu entnehmen, dass die HABAG die Roggenkleie nicht zum Brotbacken verwendete, denn Kleie ist der Schalenbestandteil des Roggenkorns und wegen des Klebermangels nicht zum Backen geeignet. Was heute in der Ernährungswissenschaft geschätzt wird, Kleie als Ballaststoff in Nahrungsmitteln, das war damals nicht bekannt: Roggenkleie war Viehfutter!
Kleie als Ware: Da die HABAG kein Viehfutter vertrieb, wurde 1911 Kleie an Mühlenbesitzer Renders in seiner Holländermühle in Bissendorf verkauft, um sie an Bauern als Futtermittel weiterverkaufen zu lassen. An diesem Beispiel wird auch sichtbar, dass die Gewerbefreiheit ab 1806, d.h. die Aufhebung vieler feudaler Beschränkungen in Deutschland, die Kleinmühlen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts unter starken Konkurrenzdruck der Industriemühlen setzte. Sie konnten immer weniger vom traditionellen Mahlbetrieb allein leben und mussten ihren Geschäftsbereich ausdehnen. Sie erweiterten sich zu Fuhr- unternehmen und zu Kundenmühlen. Unter Kundenmühlen versteht man die traditionellen Mühlen, die nur das Getreide mahlen, was angeliefert wird. Die weitere Entwicklung war die zu Handelsmühlen, zum Landhandel mit landwirtschaftlichen Produkten: Viehfutter, Saatgut, Dünger usw.
Die Tatsache, dass die Kleie nicht abgewogen, sondern sackweise verkauft wurde, ist ein weiterer Hin- weis auf ihren damaligen geringen Wert. Es ist auch zu vermuten, das Renders nicht das ganze Jahr über solche Mengen Kleie der HABAG kaufte und verkaufte, sondern nur im Winter (z.B. im Februar 1911), wenn Rinder und Schweine aufgestallt waren, denn im restlichen Jahr fiel bei ihm selbst in seiner Mühle Kleie als „Abfallprodukt“ und Viehfutter an. Zum Preis der Kleie ist Folgendes zu vermuten: Der Roggen wurde 1910 an der Börse in Nürnberg für ca. 8 Reichsmark pro Ztr. gehandelt. Sollte es sich bei den Säcken um gefüllte gebräuchliche 2-Ztr.-Säcke gehandelt haben, aber nicht gewogen, dann betrüge der Wert der Roggenkleie geschätzt etwa ein Viertel des Roggenpreises.
Leere Säcke: Die in Rechnung gestellten „100 leere(n) Säcke“ waren mit Sicherheit ein wertvolles „Recycling-produkt“ der damaligen Zeit, vermutlich aus Sisal der deutschen afrikanischen Kolonien gefertigt, die in der Dampfmühle massenweise mit den vielen Tonnen Getreide angeliefert, aber nicht mehr befüllt wurden, während Renders sie gut als Mehlsäcke in seinem Betrieb gebrauchen konnte.
Zeitungsannoncen:
Beide Grafiken entstammen der hannoverschen Zeitung „Volkswille, Organ der Interessen der arbeitenden Bevölkerung Hannover“ vom 24. Mai 1893. Sie dokumentieren die industrielle Brotproduktion am Ende des 19. Jahrhunderts und das "Recycling" von wertvollen Sekundärrohstoffen.
Zusatzantriebe für Windmühlen:
Die beiden Rechnungen von Gustav Renders weisen darauf hin, dass seine Holländermühle ab 1910 mit einem stationären Motor als Zusatzantrieb ausgerüstet war. Ein Beispiel für solche Motoren zeigt das Bild auf der „Internationalen Motorwagenausstellung zu Berlin 1899“. Der Kraftfahrzeugbereich war um 1910 quantitativ noch in seinen Anfängen, aber Verbrennungs- motoren, die letztlich eine Funktionsweise der Dampfmaschine aufgegriffen hatten, gab es schon in der ersten Hälfte des 19. Jh., ab 1877 waren die ersten für industriellen Einsatz serienreif (Deutz, Köln). Um 1910 hatten die Motoren (Gas-, Petroleum-, Benzol-, Benzinantrieb…) schon eine beachtliche Betriebssicherheit und Leistungsstärke für den Antrieb von Maschinen, sodass sie z.B. auch in Mühlen eingesetzt wurden, um die Abhängigkeit von den Naturkräften Wasser und vor allem Wind zu reduzieren, aber auch um die immer bedeutenderen Müllereimaschinen anzutreiben – und alles das, um in der Konkurrenz mit den Industriemühlen mithalten zu können. Gleichwohl war die Logistik für die Betriebsmittel von Motoren noch nicht nicht weit entwickelt und z.B. Benzol für einen entsprechenden Motor war nicht ständig vor Ort, sondern musste 1911 bei der Chemikalien-Firma Fritz Wagener in Berlin bestellt werden. Über ein Lager in Langenhagen wurde es fassweise ausgeliefert. Die Fässer waren teuer und mussten „unbeschädigt“ zurückgegeben werden: „Emb. leihw.“ bedeutete „Verpackung“/Fass (= frz. „Emballage“) wird „leihweise“ überlassen. Mit den speziellen Schmierstoffen für Motoren, z.B. einem Gasmotor von 1910, den Renders zunächst erprobte, war es ähnlich, sie mussten in diesem Fall bei der Spezialfirma Tillmanns („Technische Oele u. Fette – Fabrik Feiner Special-Oele“) in Wuppertal, d.h. Barmen-Rittershausen, bestellt werden.